Verlust und Verlusterfahrung
In diesem Aufsatz beschreibe ich die menschliche Dimension der Verlusterfahrung. Es ist jene Dimension, die das relativ gesicherte Selbst- und Welterlebens eines Menschen immer wieder aufs Neue zu erschüttern vermag, und uns vor die existentielle Frage: „Wer bin ich angesichts des „Nicht-mehr“ in meinem Leben?“
Die Entwicklung des Selbst- und Welterleben und dessen Bedrohung durch Verlust und Verlusterfahrungen
Im Beitrag Vereinzelung und Vergesellschaftung wurde gezeigt, dass der Mensch ein Beziehungswesen ist. In der Begegnung überwindet der Mensch sein Alleinsein. Es kommt zu einem gemeinsamen Erleben einer durch Beziehung konstituerten gemeinsamen Wirklichkeit, innerhalb der vergesellschaftete Menschen in einem wechselseitigen Wirkungsverhältinis zueinander stehen. Dies lässt sie sowohl zu Ab- und Urbildern der Gesellschaft als auch des Einzelen werden.
Tritt der Mensch aus der Begegnung und der gemeinsam erlebten Wirklichkeit heraus, überwindert er die Gesellschaft und erscheint als Einzelwesen. Im Rahmen der Vereinzelung verfügt der Mensch über die Möglichkeit zur Reflexion. Das bedeutet, dass er über sich selbst und seine sinnlichen Erfahrungen von der Welt nachzudenken vermag, was ihn zu einem geistigen Wesen werden lässt.
In dieser Auseinandersetzung entwickelt er relativ klare Vorstellungen hinsichtlich seiner selbst und der Welt in der er lebt, was sich in einem relativ gesicherten Selbst- und Welterleben des Menschen äußert.
Innerhalb dieses Beitrages wird der Blick auf jene Dimension des Menschlichen gelegt, die den Menschen in seinem Selbst- und Welterleben immer wieder aufs neue zu erschüttern vermag, die Verluste und die damit einhergehenden Verlusterfahrungen.
Der Urverlust als Sinnbild menschlichen Lebens – Eine Annäherung
Der Augenblick der Geburt als Neubeginn menschlichen Lebens auf Erden und dei damit einhergehende Beendigung des ersten Lebensabschnitss innerhalb des mütterlichen Kosmos stellt einen der ersten und fundamentalsten Verluste, den Urverlust, menschlichen Lebens dar.
Während der Geburt verlässt der Mensch, mehr oder minder gneötigt, den wärmenden, nährenden und schützenden Urraum, den mütterlichen Kosmos uns stellt sich dem Abenteuer leben in einer ihm bisher fremden Welt. Gleichzeitig wird er jeder Möglichkeit beraubt, je wieder in seinen ursprünglichen Raum und Zustand zurückzukehren.
Wie die Geburt verändern auch die folgenden Verluste das räumliche oder soziale Umfeld des Menschen, verändern ihn selbst oder zwingen zur Veränderung, so daa er sich erneut einer für ihn befremdlichen Welt, einem ungewissen Selbst gegenübersieht.
So wird dieser primäre Verlust zum Sinnbild menschlichen Lebens
Verluste – Das Nicht-Mehr im Leben eines Menschen
Verluste verweisen auf das Nicht-Mehr im Leben eines Menschen. Wobei das Nicht-Mehr nicht das Nichts meint, sondern das Alte, als etwas Gewesenes beinhaltet und auf das Neue als etwas potenziell Seiendes verweist. Von dieser Perspektive aus betrachtet, verliert der Terminus „Verlust“ die überwiegende Negativität des umgangssprachlichen Sprachusus. Der Verlust wir zum Ausgangspunkt für Veränderung und Entwicklung im menschlichen Leben.
Verluste können Beziehungen, Vorstellungen und Träume von Menschen betreffen. Liebesbeziehungen, Arbeitsbeziehungen oder Freundschaften zerbrechen. Liebgewonnene Vorstellungen über sich selbst müssen genauso wir Träume aufgegeben werden, indem wir uns mit alldem auseinandersetzen müssen, was es in unserem Leben nie auf die von uns gedachte Art und Weise geben wird.
Verluste können schmerzhaft und schwer zu verkraften sein und dennoch liegt in ihnen so paradox es auch klingen mag, das Potential der Entwicklung und des Neuanfangs. Nicht zuletzt tragen Verluste eine Menge zum jeweiligen Werden und geworden Seins des Menschen bei.
Die Verhandelbarkeit von Verlusten
Da der Mensch sowohl Einzel- als auch Gesellschaftswesen ist, bleibt was ein Verlust ist und wann er eintrifft stets zwischen Betroffenen und Angehörigen verhandelbar. Dieser Interpretationsspielraum hat unweigerlich starke Folgen auf das Selbst- und Welterleben der betroffenen Menschen.
Aufgrund meiner Erfahrungen ergeben sich gesellschaftlich drei Kategorien von Verlusten, nämlich primäre, sekundäre und tertiäre Verluste.
Primäre Verluste
Primäre Verluste zeichnen sich dadurch aus, dass sowohl der vom Verlust Betroffene als auch die Gemeinschaft, in der er sich bewegt, den Verlust als gegeben ansehen.
Erläuterndes Beispiel:
Ein naher, bedeutender Verwandter stirbt. Sowohl der Betroffene als auch sein Umfeld sind informiert und erkennen den Tod als Verlust für den Betroffenen an.
Sekundäre Verluste
Sekundäre Verluste zeichnen sich dadurch aus, dass ein erlittener Verlust eines Menschen, in der Gemeinschaft, in der er lebt, nicht anerkannt oder wahrgenommen wird.
Erläuterndes Beispiel:
Ein Kind wird schon in den ersten Lebensmonaten von seinen Adoptiveltern adopiert. Als das Kind von seiner Adoption erfährt, bricht für es eine Welt zusammen. Es realisiert den Verlust der leiblichen Eltern. Die Adoptiveltern können diese Reaktionen nicht nachvollziehen, da das Kind seine leiblichen Eltern nie kennengelernt hat, erkennen sie den Verlust des Kindes nicht an.
Tertiäre Verluste
Tertiäre Verluste sind Verluste, die von der Gesellschaft als solche anerkannt werden, während der mutmaßlich Betroffene den vermeintlichen Verlust entweder noch nicht anerkennen kann. Oder vom Verlust erst gar nicht auf diese Art und Weise betroffen ist, wie von den Außenstehenden angenommen wird. Hierbei handelt es sich um zwei wesensverschiedene Kategorien.
Im einen Fall realisiert die Gesellschaft einen offensichtlichen Verlust, bevor der Betroffene ihn anerkennen kann. Im anderen Fall ortet die Gesellschaft einen Verlust, den es für den vermeintlich Betroffenen gar nicht gibt.
Erläuterndes Beispiel:
Anna wird von der Polizei darüber unterrichtet, dass ihr Partner im Ausland einen Unfall mit tödlichem Ausgang hatte. Anna informiert ihre nahen Freunde und Verwandten, die den Verlust sofort anerkennen. Anna zweifelt jedoch an der Tatsache, dass es sich bei dem im Ausland Verstorbenen tatsächlich um ihren Partner handelt. Sie negiert den Verlust so lange bis sie die Leiche von Max identifiziert.
Während im ersten Fall findet die Angleichung der beiden Lebenswirklichkeiten mit der Zeit mit ziemlicher Sicherheit von selbst passiert, indem der Betroffene den Verlust anerkennt, kann es im zweiten Fall zu einer Serie von Verlusten für den Betroffenen kommen, die nur aus der Vorstellung der anderen resultieren, dass er von einem bestimmten Verlust betroffen ist.
Erläuterndes Beispiel:
Alex kommt mit einer leichten körperlichen Beeinträchtigung zur Welt, die es in keiner Weise daran hindert, sein Leben zufriedenstellend zu meistern. Seine Eltern kommen jedoch nicht über ihren eigenen Verlust hinweg, ein beeinträchtigtes Kind geboren zu haben. Sie behandeln Alex daher ständig wie ein bemitleidenswertes Geschöpf. Alex wird durch die Haltung der Eltern in seinem Selbsterleben negativ beeinträchtigt. Das hat zur Folge, dass Alex sich selbst immer weniger zutraut. Alex übernimmt mit der Zeit das Bild der Eltern. Dies führt schließlich dazu, dass Alex auch von der Umwelt weniger Anerkennung erhält, als es unter anderen Umständen erhalten könnte. Als Alex älter wird bricht er aus den ihn einschränkenden Verhältnissen aus und distanziert sich auch emotional zunehmend von seinen Eltern.
Die Verlusterfahrung
Die mit dem Verlust gekoppelte Erfahrung ist die Verlusterfahrung. Sie ist die herausragende Erfahrung eines Menschen des Nicht-Mehr-Soseins, die erst möglich wird, durch bereits vorweggenommene Erfahrungen und Vorstellungen des Soseins. Im Augenblick der Realisation des Verlustes tritt das Erleben des Nicht-Mehr-Soseins von Selbst und Welt an die Stelle des Soseins von Selbst und Welt. Die durch den Verlust berührten Anteile des gegenwärtigen Selbst- und Welterlebens werden aus dem Gesamtgefüge herausgerissen und in die Vergangenheit verbannt. Das Selbst- und Welterleben des Menschen wie insofern erschüttert, als das Lebensbereiche, die bisher als offen stehend vorausgesetzt wurden, nunmehr verschlossen sind.
Das bedeutet, dass gewisse, das bisherige Selbst- und Welterleben konstituierende, relativ konstante Beziehungen, Vorstellungen und Träume, innerhalb der bis dato existenten und als gegeben vorausgesetzten Lebenswirklichkeiten aufgrund des Verlustes unwirklich bzw. unerreichbar werden. Daraus folgt, dass sich der Mensch selbst und die Welt in der er lebt, nie wieder auf die bis zum Eintreffen des Verlustes gewohnte Art und Weise erleben kann. Auf die Frage, was Verlusterfahrungen sind, lässt sich somit zusammenfassend antworten:
„Verlusterfahrungen“ sind die fundamentalen Erfahrungen, des Nicht-Mehr-Soseins von Selbst und Welt.
Das zeitliche Verhältnis von Verlust und Verlusterfahrung
Verlusterfahrungen können aber müssen sich zeitlich nicht mit dem Eintreten des objektiven Verlustes decken, wie etwa das Gewahr werden des Alterns als Verlust der Jugend (Verlusterfahrung viel später als Eintritt des Verlustes) oder das Gewahr werden des bevorstehenden Todes eines geliebten Menschen im Falle einer schweren Erkrankung (Verlusterfahrung vor Eintritt des Verlustes). Wenn sich jedoch gemacht werden, erschüttern sie das Selbst- und Welterleben des betroffenen Menschen und setzten Affekte und körperliche Reaktionen frei, deren Intensität und Dauer graduell von der jeweiligen persönlichen Bedeutung des Verlustes und der Intensität der damit verbundenen Verlusterfahrung abhängig.
„Kleine Tode“ – Verlusterfahrung als Grenzerfahrung
Das Eintreffen wesentlicher Verluste hat zur Folge, dass Beziehungen, Vorstellungen und Träume, welche das bisherige Selbst- und Welterleben eines Menschen wesentlich waren, über den Verlust hinaus verloren gehen oder stark befremdend wirken. Mit Verlusten verhält es sich demnach ähnlich wie mit Steinen, die ins Wasser geworfen werden. Egal wie unscheinbar ein Verlust auch sein mag, er zieht seine Kreise und rüttelt unaufhaltsam an einmal gefassten Vorstellungen eines Menschen betreffend der Welt, in der er lebt, bezüglich der Menschen, die er liebt, den Träumen die er verwirklichen möchte und letztlich hinsichtlich seiner selbst. Verlusterfahrungen führen den Menschen immer wieder aufs Neue an seine Grenzen.
Anfänglich betrachtet sich der Mensch als Mittelpunkt der Welt. Mit der Zeit lernt er Ich zu sagen und entdeckt sich selbst und den potenziell Anderen. Gleichzeitig macht er eine schmerzliche Erfahrung. Der Mensch erfährt, um mit PESTALOZZI zu sprechen, „einen ersten Schatten des Gefühls, dass nicht alles um seinetwillen in der Welt sei, und mit ihm entkeimt auch das zweite Gefühl: Dass auch es selbst nicht um seinetwillen allein in der Welt sei (…)“ (PESTALOZZI zit. nach SCHINDLER 1993, 69). Diese Erfahrungen sind Vorboten der Erkenntnis, dass das menschliche Leben auf Erden durch den Tod begrenzt ist. Angesichts des Todes ist der Mensch gezwungen, seine Vorstellung, dass alles in der Welt auf sein Wohlergehen ausgerichtet ist, aufzugeben. Er erkennt den Tod als Grenze seines Lebens, die vorweggenommene Grenzerfahrungen werden so, um mit Regine SCHINDLER zu sprechen, „zur Vorbereitung auf den Tod“ (ebd.), als letzten allumfassenden Verlust, indem sich die kleinen Tode spiegeln.
Verlusterfahrung als Sinnbild der Vergänglichkeit
Verlusterfahrungen erinnern den Menschen also immer wieder auf schmerzliche Art und Weise daran, dass nichts im Leben Bestand hat – weder die Welt, in der er lebt, noch die Beziehungen, die ihm wichtig sind. Verlusterfahrungen machen deutlich, dass der Mensch weder sich selbst noch Menschen, die er liebt vor Gefahren, Krankheit oder Tod bewahren kann und erinnern ihn unaufhörlich daran, dass er im Grunde immer wieder dazu bestimmt ist, allein zu sein. Sein ganzes Leben lang versucht er, indem er in Beziehung tritt, dem Alleinsein zu entgehen, sich selbst in der Beziehung zur Welt und den Menschen zu finden, bis schließlich der Tod selbst die längsten Bande löst. Innerhalt dieses letzten allumfassenden Verlustes widerspiegelt sich aufs Neue der verlustbetonte Charakter menschlichen Lebens auf Erden. Wie einst bei der Geburt lässt der Mensch alles hinter sich, um vielleicht wie einst in einen neuen noch unbekannten Kreislauf einzukehren.
Hier stellt sich unweigerlich die Frage, ob der Mensch diesen Erfahrungen hilflos ausgeliefert ist, oder ob er über Potentiale verfügt, sich seinen Verlusten und den damit verbundenen Verlusterfahrungen aktiv anzunehmen. Antwort darauf gebe ich im nächsten Beitrag.
Ich werde zeigen, dass die Fähigkeit zu trauern einen wesentlichen Beitrag zur menschlichen Dimension der Freiheit beiträgt.
Quelle:
HOLLOWAY, Irene: Spielend trauern. Einführung in die Theorie und Praxis der Trauererziehung. Dissertation. Wien 2003