Sanna Igelkind – Trauern mit Kindern
Als Leherin hatte ich es sehr oft mit trauernden Kindern zu tun. Sei es, weil sich die Eltern trenne oder scheiden lassen. Sei es, dass liebgewonnene Freunde wegziehen. Sei es dass, Kinder in der Klasse von Flucht und Krieg betroffen sind. Sei es, dass nahe Menschen sterben.
Lernen kann nur gelingen, wenn wir Kinder in diesen Phasen adäquat begleiten. Auch Trauern will gelernt sein. Es liegt an uns Erwachsenen den uns anvertrauten Kindern, das zu ermöglichen. Trauern mit Kindern steht an der Tagesordnung, sobald Pädagog_innen dafür sensibilisiert sind.
Manchmal helfen für die Kinder erfundene Geschichten kleine Wunder.
Lesetipp:
Sanna Igelkind
Sanna ist sieben Jahre alt. Sie hat funkelnde, schwarze Augen und langes schwarzes Haar. Sie ist dünn und lang wie eine Spaghetti. Wenn es Probleme gibt, läuft Sanna weg. Wenn Sanna nicht weglaufen kann, schlägt und beißt sie. Sie stößt Tische um, räumt Regale aus und wirft Stühle durch die Gegend. Sie schreit wie am Spieß und lässt sich nicht beruhigen. Die Kinder in ihrer Klasse wollen nicht mit Sanna spielen. Sie sagen: „Die Sanna ist verrückt.“ Die Lehrerin sagt: „Sanna darf nicht mehr zur Schule kommen.“
Sanna wechselt die Schule
Schließlich kommt Sanna in eine andere Schule. Doch sie mag die Klasse nicht besonders. Denn hier gibt es nur fünf Buben. Sanna weiß genau, was sie tun muss, um aus der Schule zu fliegen. Sie reißt der Lehrerin an den Haaren, schlägt ihr ins Gesicht, bespuckt sie, tritt ihr in den Bauch und schimpft sie laut. Sanna geht auch auf die Buben los. Aber es nützt alles nichts. Sanna ist hier willkommen. Die Lehrerin sagt nie, dass Sanna nicht mehr kommen darf. Sie sagt nur: „Sanna hat wieder eine Krise.“ Zwar finden auch hier ein paar Kinder, dass Sanna verrückt ist, aber es gibt einen, dem gefällt die wilde Sanna sehr. Er heißt Tom.
Tom
Tom ist gleich alt und gleich dünn wie Sanna, aber um einen Kopf kleiner als sie. Er hat wache, wasserblaue Augen, Sommersprossen und helle Strubbelhaare, die er sich selbst schneidet, wenn ihn irgendetwas ärgert. Da Tom sich immer wieder einmal ärgert, muss Tom nie zum Frisör. Tom geht schon länger in diese Schule.
Als er neu war, hat er die Lehrerin laut beschimpft, die Sessel umgestoßen, die Hefte und Bücher zerrissen, Bleistifte und Lineale abgebrochen, seine Mitschüler geboxt und Scheren durch die Gegend geworfen. Jetzt macht Tom das alles nicht mehr. Die anderen Kinder finden: „Tom ist richtig brav geworden.“, und die Lehrerin muss nie mehr sagen: „Tom hat eine Krise.“
Tom und Sanna werden Freunde
Wenn Sanna wütend ist, versucht Tom sie zu beruhigen. Er teilt mit ihr sein Jausenbrot oder verspricht ihr, in der Pause mit ihr zu spielen, wenn sie jetzt wieder brav arbeitet. Mit der Zeit werden die beiden dicke Freunde. In der Pause spielen sie „Hund“. Tom geht auf allen Vieren und hat eine Leine um den Bauch gebunden. Sanna führt ihn im Gang Gassi, geht mit ihm zum Tierarzt und gibt ihm ein Leckerli, wenn er Hundekunststücke zeigt. Hin und wieder verstecken sich die zwei unter einer roten Wolldecke und dann bekommt Sanna von Tom ein Bussi auf die Wange. Manchmal gibt es auch Streit, dann sagt Sanna: „Du bist nie wieder mein Freund.“, und Tom antwortet: „Ist mir doch egal, du bist sowieso blöd.“ Aber nach kurzer Zeit vertragen sie sich wieder. Sanna bringt Tom jeden Morgen ein Schokoladekipferl mit und Tom borgt sich bei der Lehrerin ein Messer aus und teilt seinen Apfel mit ihr. So vergeht das Schuljahr wie im Flug.
Endlich wieder Schule
Sanna vermisst ihren Freund und die Schule in den Sommerferien sehr. Als Sanna im Herbst wieder in die Klasse kommt, sagen die Kinder: „Sanna ist viel braver geworden.“, und die Lehrerin muss fast nie mehr sagen: „Sanna hat eine Krise.“ Und Tom teilt mit Sanna seinen Apfel, spielt mit ihr Hund und gibt ihr hin und wieder unter der roten Decke ein Bussi auf die Wange.
Im Herbst lernen die Kinder alles über den Igel. Und weil ein Herbststurm alle Blätter von den Bäumen im Schulhof geweht hat, bauen die Kinder einen Laufhaufen und legen sich hinein. Die Lehrerin bedeckt die Kinder mit Laub, bis gar nichts mehr von ihnen zu sehen ist. Es ist kuschelig warm unter den Blättern und es duftet herrlich. Die Kinder können gar nicht genug vom Igelspielen bekommen – bis auf einen.
Tom hat sich verändert
Sanna fällt auf, dass Tom seit Schulbeginn anders ist. Er ist unruhig und hat hin und wieder sehr schlechte Laune. Dann zerreißt er sein Arbeitsblatt, bricht einen Bleistift ab oder schimpft die Lehrerin. Einmal hat Tom die Lehrerin sogar getreten und dass mag Sanna gar nicht. Denn inzwischen mag Sanna die Frau Lehrerin sehr. Sanna geht die Frau Lehrerin sogar manchmal nach der Schule besuchen und dann kochen sie gemeinsam, gehen schwimmen, backen einen Kuchen oder sitzen gemeinsam in der Hängematte und plaudern.
Sanna fragt Tom: „Was ist mit Dir los?“ und Tom erzählt Sanna, dass er nicht mehr lange in diese Schule gehen kann, weil sein Papa in einer anderen Stadt Arbeit gefunden hat. Tom ist traurig und wütend, weil er nicht fortziehen will. Er mag seine Freunde nicht verlieren, in der neuen Stadt kennt Tom niemanden. Sanna macht das auch traurig. Immerhin ist Tom ihr erster und bester Freund und mit den anderen Buben in der Klasse versteht sie sich nicht sehr gut. Was soll nur aus ihnen werden.
Ende Oktober ist es dann so weit. Tom kommt das letzte Mal in die Schule und Sanna ist sehr unglücklich. Sie zeichnet ein großes Bild von Tom und ihr. Zwischen Tom und Sanna malt sie ein großes Herz. Das ist die Liebe, erklärt Sanna der Frau Lehrerin und dabei leuchten ihre Augen. Aber im nächsten Moment ist Sanna wieder traurig. „Komm mich doch heute Nachmittag besuchen“, meint die Lehrerin, „dann bauen wir den Igeln in meinem Garten einen Laubhaufen!“ Sanna freut sich über die Einladung und ist ganz aufgeregt.
Sanna besucht Klara im Garten
Am Nachmittag kommt Sanna pünktlich um zwei zum Gartenhäuschen. Sanna bekommt einen Laubrechen und einen Kübel. Gemeinsam machen sie sich an die Arbeit. Sanna hat schon nach ein paar Minuten genug vom Arbeiten. Sie durchsucht das Gartenhäuschen und den Geräteschuppen, springt am Trampolin und ist dabei sehr nachdenklich. „Ich vermisse Tom.“, sagt Sanna schließlich zu Klara. So heißt ihre Frau Lehrerin. Klara holt die Hängematte aus dem Schuppen und hängt sie zwischen die Apfelbäume. Dann holt sie zwei kuschelige Decken, die Thermoskanne mit Tee und Kekse und sagt zu Sanna: „Komm setzt dich mit mir in die Hängematte.“ Klara wickelt Sanna in eine Decke, gibt ihr Tee und Kekse und hebt sie in die Hängematte. Dann setzt sich Klara zu ihr. Sanna kuschelt sich an Klara und Klara beginnt zu erzählen.
Klara erzählt die Geschichte von Sanna Igelkind
Es waren einmal zwei Igelkinder. Sanna war ein Igelmädchen und Tom war ein Igelbub. Sie hatten sich eines Nachts zufällig unter einer Hecke kennengelernt und wurden gleich Freunde. Tom und Sanna spielten Nachlaufen und Verstecken und hin und wieder gingen sie gemeinsam auf Futtersuche. Als der Herbst kam, trennten sich ihre Wege. Beide mussten zu ihren Igeleltern in den Laubhaufen kriechen, um ihren Winterschlaf zu halten. Im Laubhaufen war es wunderschön kuschelig und warm. Der Schnee fiel vom Himmel und breitete eine weiße Decke über die Laubhaufen und Sanna und Tom wurden richtig müde.
Tom träumte von Sanna und Sanna träumte von Tom. Sie träumten wie sie gemeinsam über die Hügel liefen und nach dicken Schnecken und saftigen Regenwürmern suchten. Tom war ein richtiger Kavalier, er teilte alles was er jagte mit Sanna. Manchmal knabberten sie beide je von einer Seite an einem Regenwurm, bis sich ihre kleinen schwarzen Igelnasen berührten und dann spürte Sanna wie ihre Wangen ganz rot wurden und Tom musste verlegen kichern.
Sanna kuschelt sich noch mehr an Klara heran und sagt: „Und dann?“
Eines Nachts als sich Tom und Sanna wieder trafen, fragte Tom, der inzwischen ein richtig hübscher Igelmann war, Sanna, ob sie seine Frau werden will. Sanna war begeistert und so bauten sie sich gemeinsam ein Igelnest. Die zwei waren die glücklichsten Igel auf der Welt. Doch nach ein paar Wochen veränderte sich Sanna. Sie war manchmal schlecht gelaunt und sagte zu Tom: „Du musst viel mehr Regenwürmer und Schnecken suchen. Ich bin immer hungrig und manchmal ist mir auch schlecht!“ Und tatsächlich der Bauch von Sanna wurde immer runder und runder und Tom wusste gar nicht mehr, wo er die ganzen Schnecken finden sollte.
Klara fragt Sanna: „Was ist nur mit Sanna los?“ und Sanna antwortet: „Wahrscheinlich wird sie bald platzen von den vielen Schnecken!“ Klara lacht und fragt: „Glaubst du wirklich?“ Sanna überlegte kurz. Dann leuchten ihre Augen und sie ruft: „Nein, sie bekommt Babys. Erzähle weiter.“ Klara nimmt einen Schluck von ihrem Tee und isst einen Keks, dann fährt sie fort.
Sanna konnte von Tag zu Tag schlechter gehen, so dick war ihr Bauch schon und Tom machte sich so richtig Sorgen. Nun wollte Sanna auch noch, dass Tom das Nest größer machte. Tom verstand die Welt nicht mehr. Sie hatten doch das schönste Nest weit und breit. Aber wenn Sanna sich etwas in den Kopf setzte, war reden sowieso zwecklos, also vergrößerte er das Nest. Und als Tom am nächsten Abend aufwachte, traute er seinen Augen nicht. Tom war Vater geworden. Sanna hat vier kleine Igelbuben geboren.
„Nur Igelbuben?“, fragt Sanna enttäuscht. „Ja“, antwortet Klara, „und weißt du, wie sie heißen?“ „Nein“, antwortet Sanna. „Sie heißen Felix, Jakob, Wolfgang und Andi.“ Sanna lacht: „Das sind ja die Buben aus der Klasse!“ „Genau“, sagt Klara, „und Sanna Igel Mama wird viel Arbeit mit den Jungs haben!“ „Erzähl weiter!“, bittet Sanna.
Tom und Sanna waren außer sich vor Glück. Sie hatten die hübschesten Igelkinder, die man sich nur vorstellen konnte. Jakob war ein bisschen mollig, weil er so gerne aß. Wolfgang war sehr ängstlich und fürchtete sich sogar vor einem Regenwurm. Felix wollte kein Igel sein, er wäre viel lieber ein kleiner Kletteraffe geworden und Andi der Älteste wusste immer genau, was passierte. Tom und Sanna hatten alle Hände voll zu tun. Einmal kam Andi gelaufen und rief: „Mama, Papa kommt schnell, Felix ist wieder auf einen Baum geklettert und kommt nicht mehr herunter!“ Als Sanna und Tom zum Baum kamen, war Felix unglaublich stolz auf sich. Er saß am obersten Ast und rief: „Ich sag ja, ich bin ein Affe und kein Igel!“ Sanna und Tom sagten im ganz ernsten Ton: „Komm sofort da herunter, sonst holen wir dich!“ Aber Felix antwortete: „Das traut ihr euch eh nicht, ich will ein Affe sein“! Und damit hatte Felix leider Recht. Sanna und Tom konnten beide nicht klettern und sie hatten keine Ahnung wie Felix es auf den Baum rauf geschafft hatte. „Komm sofort hier herunter, bevor Dich Eule entdeckt und Dich frisst!“, schrie Tom ganz verzweifelt. Das half, denn gefressen werden, wollte Felix nicht, also ließ er sich einfach in den Laubhaufen unter dem Baum plumpsen.
Sanna schüttelt sich in der Hängematte vor Lachen: „Der Felixigel ist ja genauso wie der Felix in der Schule, der klettert auch überall herum, wo es gefährlich ist. Und was stellt der Jakobigel an?“ Klara erzählt weiter.
„Mama, Papa kommt schnell!“ rief Andi, „der Jakob und der Wolfgang streiten schon wieder ums Essen!“ Sanna und Tom liefen los. Sie hätten nie gedacht, dass es so anstrengend sein kann, Igelkinder zu erziehen. Und tatsächlich: Jakob und Wolfgang zerrten beide an einer Schnecke. „Die gehört mir!“, fauchte Jakob durch die spitzen Igelzähnchen durch, „ich habe sie zuerst entdeckt!“ „Du hast mir schon fünf weggeschnappt, ich bin auch hungrig!“, jammerte Wolfgang. „Schluss mit dem Blödsinn!“, rief Tom, „Hier gibt es genug Schnecken! Wer von euch beiden kann jetzt wohl nachgeben?“ Jakob öffnete langsam sein Igelmaul und zischte: „Na gut, dann such ich mir eben einen Käfer. Wer will schon so eine schleimige Schnecke. Das ist ja ekelig!“ Wolfgang begann zu weinen: „Schnecken sind gar nicht ekelig. Schnecken sind mein Lieblingsessen!“ „Lass dich von Jakob doch nicht ärgern“, beruhigte in Sanna. „Jetzt aber ab ins Nest mit euch“, schnaubte Tom. „Mama und ich brauchen jetzt ein bisschen Erholung!“
Die Tage wurden länger und die Sonne wurde wärmer. Die Schneedecke, die die Laubhaufen von Tom und Sanna zudeckte, begann zu schmelzen. Tom verspürte großen Hunger und er rekelte und streckte sich und öffnete ganz langsam die Augen. War das ein schöner Traum, dachte Tom. Gleich nach dem Essen mache ich mich auf die Suche.
„Und wen wird er wohl suchen?“, fragt Klara Sanna. „Mich, natürlich!“ ruft Sanna.
Sanna geht es besser
Von diesem Nachmittag an, ist Sanna ein bisschen weniger traurig. Und falls sie doch einmal sehr traurig ist, erzählt ihr Klara eine Geschichte von Sanna Igelkind und ihrem Igelfreund Tom.